Geschichtliche Entwicklung der Gemeinde
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
St. Ulrich mit Blick auf Seceda (um 1930) © Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Abt. 14, Amt für audiovisuelle Medien, Fotograf Leo Bährendt
In den ersten Nachkriegsjahren entwickelte sich die Wirtschaft der Gemeinde St. Ulrich positiv. Der Fremdenverkehr und die Holzschnitzerei hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg schnell erholt und stellten somit die wichtigsten Einkommensquellen der einheimischen Wirtschaft dar. Aufgrund der vorhandenen Geldmittel war die Baulust größer denn je zuvor. In St. Ulrich wurde binnen etwa eines Jahrzehnts der gesamte Mittelstrich, der untere Teil des Col de Flam und das Gelände außerhalb des alten Bahnhofes verbaut. Durch die rege und ungeregelte Bautätigkeit ist ein vollkommen unorganisches Siedlungsbild entstanden. Darauf reagierte die Gemeinde im Jahre 1955 mit der Ausarbeitung eines „Regulierungsplanes“. (Lutz 1966, S. 307) In den 1960er Jahren erreichte die Siedlungserweiterung die Gebiete Außerwinkel und Pescosta. Ausschließlich St. Jakob und Oberwinkel waren unberührt geblieben. Das Zentrum beschränkte sich auf den Talraum. Das Gebiet entlang der Talstraße war am dichtesten verbaut aber auch entlang anderer Wege erstreckten sich bereits damals dicht bebaute Zonen. (Lutz 1958, S. 63)
Der erste Bauleitplan aus dem Jahr 1973 sah im Dorf St. Ulrich zwölf Erweiterungszonen vor, die zum Teil auch in sehr entlegenen Gebieten vorzufinden waren und somit zur Zersiedelung beitrugen. In den letzten Jahrzehnten wurden zudem auch einige Gewerbezonen realisiert, in denen Handwerker und Gewerbetreibende aber auch der Dienstleistungssektor untergebracht wurden.
Prà und St. Jakob (1954-1956) Bearbeitung: Dusleag & Wanker; Datengrundlage: Autonome Provinz Bozen - Südtirol, Raumordnung
Die florierende Wirtschaft und die dadurch hervorgerufene fortschreitende Verbauung stehen in engem Zusammenhang mit dem Rückgang der Acker- und Wiesenflächen. Im Laufe der Jahre wurden vor allem die dem Ortskern nahen Ackerflächen aufgelassen, da sie in vielen Fällen der Verbauung weichen mussten. Je weiter man sich vom Zentrum entfernte, desto größer war die Zahl der Ackerflächen. So wurde zum Beispiel in der Fraktion St. Jakob noch im Jahre 1956 auf vielen Flächen Ackerbau betrieben. (Lutz 1966, S. 185) In den 1970er Jahren verschwand der Ackerbau vollkommen aus dem Landschaftsbild der Gemeinde. Seither wird ein Rückgang der Wiesen verzeichnet, der auf die fortschreitende Ausdehnung der Siedlungsfläche zurückzuführen ist. Für das Wachstum des Siedlungskörpers ist nicht nur der private Wohnbau verantwortlich, sondern auch der Ausbau der touristischen Infrastruktur. In den letzten Jahrzehnten wurden viele Hotels, Pensionen, Garnis und Ferienwohnungen realisiert sowie auch quantitativ und qualitativ erweitert.
Der Tourismus hat sich in der Nachkriegszeit stark verändert. Bis in die 1950er Jahre dominierte in St. Ulrich der Sommertourismus, doch ab der Mitte des 20. Jahrhunderts gewann der Wintersport immer mehr an Bedeutung. (Lutz 1966, S. 162) Im Zuge dieser Entwicklung wurden neue Aufstiegsanlagen gebaut, und bereits 1965 entfielen 33 % der Nächtigungen auf den Winter. Gegen Ende der 1960er Jahre wies die Gemeinde St. Ulrich knapp 400.000 Übernachtungen auf. Es kann also bereits zur damaligen Zeit von Massentourismus gesprochen werden (Sullmann 1999, S. 64).
In den 1960er Jahren wuchs neben der Gebäude- und Touristenzahl auch die Einwohnerzahl der Gemeinde. Dafür sorgten in den Jahren 1961-1971 eine positive Wanderungsbilanz und ein hoher Geburtenüberschuss. In den darauf folgenden Jahrzehnten verflachte die Bevölkerungskurve zusehendes. (Astat 2002b)
Zwischen 1961 und 1991 wuchs die Bevölkerung um etwa 32 %, die Anzahl der Wohnungen hingegen um knapp 115 %. Der Zuwachs an Wohnungen ist viel höher als das Bevölkerungswachstum, da viele Ferienwohnungen gebaut wurden. In diesem Zusammenhang ist die Zweitwohnungswelle zu nennen, die in den 1970er Jahren zu einem großen Verbrauch von Boden, zu einem Anstieg der Bodenpreise und zur Zersiedlung und Verstädterung beigetragen hat. (Perathoner u. Moroder 2007, S. 434; Sullmann 1999, S. 67-68, 113) Zudem hat in den letzten Jahrzehnten die durchschnittliche Einwohnerzahl pro Wohnung abgenommen. Seit dem Jahr 1991 ist die Einwohnerzahl weiter angestiegen. Im Jahr 2001 waren 4.484 Menschen in St. Ulrich ansässig, am 31.12.2007 waren es 4.561. Dies entspricht einem Anstieg im Vergleich zum Jahr 1991 um etwa 8 %. (Astat 2001)
Der Anstieg der Einwohnerzahl und der Übernachtungen erhöhte das Verkehrsaufkommen im Tal aber auch innerhalb der Gemeinde. Bereits nach der Einstellung der Grödnerbahn im Jahre 1960, wurden erste Pläne zum Bau einer zweiten Straßenverbindung mit dem Eisacktal geschmiedet. Diese folgte im Wesentlichen der Trasse der Eisenbahn von Klausen ausgehend. Sie wurde im Jahre 1976 fertiggestellt. Aufgrund der großen Verkehrsbelastung im Zentrum von St. Ulrich wurde im Jahre 1978 mit dem Bau einer Umfahrungsstraße entlang des Grödnerbaches begonnen. Nach der Fertigstellung wurde der Bereich entlang der Talstraße dicht verbaut. (Perathoner u. Moroder 2007, S. 444)
Die Holzschnitzerei, als ehemaliges Hauptstandbein der Wirtschaft, schlug eine etwas andere Entwicklung als der Tourismus ein. Durch die Entwicklung der maschinellen Vervielfältigung der Holzschnitzereien stieg die Produktionsmenge stark an. Der geringere Preis dieser Serienprodukte im Vergleich zu den handgefertigten Skulpturen, sorgte zunächst für einen Anstieg der Verkaufszahlen und für große Umsatzsteigerungen. In den letzten Jahrzehnten wurde aber eine sinkende Nachfrage nach Holzschnitzereien verzeichnet und mehrere Betriebe und Bildhauer stellten die Produktion ein. Die Holzschnitzerei spielt in St. Ulrich aber nach wie vor ein wichtige Rolle, da sie das typische Handwerk der Gemeinde darstellt.
Zusätzliche Information
Die geschichtliche Entwicklung der Gemeinde St. Ulrich von den Anfängen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kann hier eingesehen werden
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