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Wirtschaftliche Aktiv- und Passivräume - Alpen

Die Alpen zwischen Vervorstädterung und Entsiedlung

Die Karte Wirtschaftliche Aktiv- und Passivräume - Alpen stellt die gleichartige Analyse im Tirol Atlas-Kerngebiet anhand der Bevölkerungsentwicklung von 1971 bis 2001 auf der Gemeindeebene (Karte Nr. 6 Wirtschaftliche Aktiv- und Passivräume im Set Strukturwandel) in einen größeren Kontext. Der bekannte Alpenforscher WERNER BÄTZING hat in seiner Monographie "Die Alpen - Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft" eine ähnliche Methode angewandt, um den Strukturwandel der Alpengemeinden seit Beginn der Industrialisierung zu typisieren (Kapitel 5 Typisierung des Strukturwandels: Die Alpen zwischen Vervorstädterung und Entsiedlung, S. 271 ff.). Man geht dabei davon aus, dass eine positive Bevölkerungsentwicklung eine positive Wirtschaftsentwicklung anzeigt und umgekehrt. Die Karte stellt also die maßgeblichen demographischen und ökonomischen Trends seit Mitte der 1990er Jahre dar, als Österreichs der EU beitrat.

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Eine französische Boomregion: Das verstädterte Tal der Arve mit Chamonix
am unteren Bildrand, darüber die spektakuläre Hochgebirgslandschaft mit
dem Mont Blanc als Touristenmagnet (© http://alpes-image.ifrance.com/)

Besonders auffällig ist, dass die französischen Alpenregionen, die noch bis in die 1970er Jahre als von Entsiedlung bedroht gegolten hatten, eine Trendumkehr vollzogen haben und mittlerweile den am dynamischsten wachsenden Großraum der Alpen bilden. Allerdings muss an dieser Stelle gesagt werden, dass die großflächigen Alpendepartments, die in Frankreich die Ebene NUTS 3 bilden, kleinräumige Unterschiede verdecken. Wachstumsstark ist vor allem der französische Alpenrand, also die Umgebung von Nizza, der Alpensüdrand im Department Vaucluse und die Region nördlich und nordwestlich der Isère mit der Agglomeration von Grenoble und dem südlichen Umland von Genf. Hier findet eine umfangreiche Verstädterung der Tallagen und eine starke Ausbildung von Pendlerwohngebieten statt, die ein Teil der Vervorstädterung der Alpen ist (Arbeiten in den Metropolen außerhalb der Alpen, Wohnen in den Alpen). Dass mittlerweile aber auch eine umfangreiche Tourismusentwicklung in Gang gekommen ist, beweisen einige Teile der Departments Savoie und Hautes-Alpes, die den Aufschwung mittels Wintertourismus in das Innere des Alpenbogens hinein tragen können.

Im italienischen Westalpenraum gibt es dagegen ausgesprochene Entsiedlungsgebiete, die keine Trendumkehr erreichen konnten. Gemeint sind vor allem die Provinzen Imperia, Savona, Cuneo, Torino, Vercelli, Biella und Verbano-Cusio-Ossola. BÄTZING hat nachgewiesen, dass diese Gebiete bereits seit Beginn der Industrialisierung im Alpenraum um das Jahr 1880 dauerhaft unter Bevölkerungsverlusten gelitten haben. Der Bevölkerungsstand ist mittlerweile so gering, dass nur noch die gut erreichbaren Siedlungskerne in den Haupttälern bevölkert sind, während die Seitentäler fast menschenleer geworden sind. Die leichte Bevölkerungszunahme in der Provinz Cuneo zeigt eine leichte Änderung im Umfeld der Großstadt Turin an, die auf Suburbanisierungstendenzen, wie sie im Falle von Nizza, Grenoble oder Genf bereits angesprochen wurden, beruhen. Die schwache Entwicklung in den südöstlichen italienischen Alpen (Provinzen Belluno, Udine und Gorizia) hat mit der Schwächung der industriellen und gewerblichen Produktionsbasis, die bereits bei der Analyse im Tirol Atlas-Kerngebiet angesprochen wurde, und der in der Vergangenheit ungünstigen Lage am Eisernen Vorhang zu tun.

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Ein typisches romanisches Bergdorf: Campiglia,
Provinz Biella (© Archivio fotografico ATL Biella,
Foto Fabrizio Lava)
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Ein Menetekel für die Zukunft? Friedhof in Matrei im strukturschwachen
(und aussterbenden?) Osttirol (© Dr. Hans Gschnitzer)

Ein anderer markanter Passivraum erstreckt sich keilförmig vom Alpenostrand bis nach Osttirol. Er umfasst die Westliche und Östliche Obersteiermark, in der die Bevölkerungsabnahme gut 10 % betrug, den Lungau und weite Teile Kärntens. Dieser Raum stellt gewissermaßen das Gegenbild zu den französischen Wachstumsregionen da, weil hier keine positive, sondern eine negative Trendumkehr Platz gegriffen hat. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts strahlte die wirtschaftliche Dynamik des steirischen Schwerindustriereviers in der Mur-Mürz-Furche in weite Bereiche dieses Raumes aus und die Bevölkerung wuchs. Der Bergbau am Steirischen Erzberg lieferte den Rohstoff für diesen Wirtschaftsboom. Danach geriet die Schwerindustrie allerdings rasch in die Krise und es erfolgte eine regelrechte Deindustrialisierung, die durch keine anderen Aktivitäten im Dienstleistungsbereich aufgefangen werden konnte (für etwaigen Massentourismus als Ersatzbranche eignet sich dieses randalpine Gebiet nur wenig). Nur der Gunstraum des Grazer Beckens, der kein Berggebiet im eigentlichen Sinne ist, konnte sich von dieser Negativentwicklung abkoppeln. Kärnten und Osttirol litten zunehmend unter der Abwertung der wirtschaftlichen Ost-West-Verbindungen zu Gunsten der Nord-Süd-Achsen und ihrer Isolation aufgrund der schwierigen Verkehrsverhältnisse. Allerdings sind die Passivräume der Steiermark, Kärntens und Osttirol nicht als Entsiedlungsgebiete anzusprechen, weil die wirtschaftliche und demographische Negativentwicklung jüngeren Datums ist.

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Neue Perspektiven im Unterinntal: "Berge und Geschäft", Blick vom
Shopping Center DEZ am unteren Bildrand Richtung Karwendel
(© Jan Stirnweis)

Westlich an den "Passivkeil" schließt ein Nord-Süd-Band an wachstumsstarken NUTS 3-Regionen an, das im Zentrum von der Brennerachse durchzogen wird. Dazu gehören die (ober)bayerischen Alpenkreise, Vorarlberg, Nord- und Südtirol, weite Teile Salzburgs, das Trentino und die oberitalienischen Provinzen von Lecco im Westen bis Pordenone im Osten. Die Analyse im Kernraum hat die nördlichen Teile von Pordenone als Passivraum identifiziert, der in das Tirol Atlas-Kerngebiet hineinreicht. Man muss also davon ausgehen, dass in Oberitalien das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum am äußersten Südrand der Alpen und in der Poebene im Umfeld der Zentren Mailand, Verona und Venedig stattfindet. Die Begründung für das flächenhafte Wachstum der westlichen Ostalpen findet sich einerseits in der Verstädterung der gut erreichbaren Haupttäler (v.a. Inntal, Etschtal, Alpenrheintal) und der randalpinen Gebiete, die von der Fernwirkung der Zentren München, Salzburg und den Metropolen der Poebene profitieren. In Kombination dazu fand eine flächenhafte Aufwertung des wertschöpfungsstarken (Winter)Massentourismus statt, der die allermeisten Seitentäler am Leben erhält. Eine gleichzeitige Aufwertung der Nord-Süd-Verbindungen durch die Alpen, die die Transittäler zwar mit Verkehr belastet, sie aber auch in vielfältiger Weise am europäischen Wirtschaftsleben teilhaben lässt, verstärkt den positiven Trend zusätzlich. Die westlichen Ostalpen sind also nicht nur Durchgangsraum, sondern vielmehr das wirtschaftliche Herz Europas, das sogar schneller gewachsen ist wie viele außeralpine Regionen. Dieser Wachstumsvorsprung ist einmalig, da alle anderen Hochgebirgsräume der Erde stets der Peripherie und den Passivräumen zugerechnet werden.

In der Schweiz ist die Entwicklung uneinheitlicher verlaufen. Hier liegen innerhalb kurzer Distanz neben Aktivräumen wiederum Passivräume. Einzig in der West- und Südwestschweiz lässt sich ein größeres zusammenhängendes Aktivgebiet identifizieren. Der Großkanton Graubünden, der im Unterengadin und im Prättigau in das Tirol Atlas-Kerngebiet hineinreicht, ist im Schweizvergleich als strukturschwach zu bezeichnen. Ein ähnlich uneinheitliches Bild lässt sich (noch) von Slowenien zeichnen. Die Schwierigkeiten der Transformation vom Sozialismus zur Marktwirtschaft, die mit dem Absterben der Schwerindustrie verbunden waren, sind hier durchaus noch sichtbar. Allerdings deutet viel darauf hin, dass sich Slowenien, sieht man von der peripheren NUTS 3-Region Goriska ab, auf dem Weg zu einer Boomregion befindet, die nach und nach "ins Rollen" kommt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dies allerdings noch nicht in vollem Umfang auf der Karte ablesbar.

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